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Reisebericht von Island

22.Juli – 13. August 2000

1140 km per Fahrrad

1. WOCHE


Samstag 22.Juli 2000
Laufen, Schweiz – Keflavik, Island


Endlich geht’s los. Raus aus dem engen Korsett der letzten Wochen. Schluss mit den beklemmenden Gefühlen, die Prüfungen mitsichbringen. Die Reisevorbereitung ist kurz und heftig, eineinhalb Tage blieben mir um, alles vorzubereiten für (fast) alle Eventualitäten: Wie kalt wird es? Halten die Reifen durch? Könnte etwas brechen am Fahrrad auf den holprigen Strassen? Wird mein Zelt einen Nordatlantiksturm schadlos überstehen? …? 30 min bevor der Zug zum Flughafen abfährt sind die letzten Sachen verstaut, noch etwas chaotisch zwar, aber zu meiner Erleichterung findet alles irgendwie Platz in den Taschen. Mit meiner Schwester, welche wohl kurzfristig auch etwas vom Fernweh gepackt ist, gehts Richtung Zürich.

Endlich sitze ich im Flugzeug. Zu meiner Verwunderung kristallisierten sich zwei Klischees von Islandreisenden heraus: Die Fischer (eher bärbeissige, sprücheklopfende Typen) und die Fahrradfahrer (etwas verrückt und mit peinlich teurer Ausrüstung). Das Zurücklehnen während dem Rollen des Flugzeugs auf der Startbahn lässt mich endlich entspannen und mit grosser Neugierde meinen drei kommenden Wochen entgegenfiebern.

Ein Flug in der Nacht Richtung Nordpol birgt ein wunderschönes Erlebnis. Obwohl es zeitlich immer tiefere Nacht wird, erscheint am nördlichen Horizont ein glühendes Band, während wir Glasgow überfliegen. Stunde um Stunde erhellt sich der Horizont immer stärker, bis man sich kurz vor einem Sonnenaufgang wiegt. Was man tatsächlich sieht ist die Mitternachtssonne über der Polarregion. Island wird im Sommer nur knapp von der diesem Phänomen erreicht, da es gerade unterhalb des nördlichen Polarkreises liegt.


Sonntag 23. Juli 2000
Keflavik – Mosfellsheidi, ca. 85 km

Ein stummer Erleichterungsseufzer durchfährt mich, als ich mein Fahrrad heil ausgehändigt bekomme am Keflavik Airport. Es ist halb drei Uhr morgens (isländische Zeit). Über eine Stunde verpacke ich meine Ausrüstung neu, die wichtigen Teile sogar doppelt in Plastiksäcke. Radlerhose, Regenhose, GoreTex-Jacke, wasserdichte Handschuhe, Kappe, Wanderschuhe und es kann beginnen. Draussen weht ein kalter Wind, der Nieselregen mitpeitscht und es ist stockdunkel (eigentlich wird es um diese Jahreszeit nie dunkel, der dicke Nebel über der Reykjanes Peninsula tut aber das übrige). Willkommen in Island!

Aller Anfang ist hart, einer mit schwerem Gepäck, eisigem Gegenwind und überhaupt keiner körperlichen Kondition erscheint mir sehr hart. Mein Körper ist noch überhaupt nicht an das ausdauernde Fahren gewöhnt, ich habe immer wieder Hunger und Durst. Die Landschaft von Keflavik nach Reykjavik (ca. 50 km) ist denkbar monoton, Die Strasse führt über grasbewachsene Lavafelder. Mein Ziel ist es östlich an Reykjavik vorbeizufahren und die Ringstrasse Richtung Hveragerdi zu nehmen. Das kurze "Volltanken" der Brennstoffflasche an einer Tankstelle konfrontiert mich mit den wohl höchsten Treibstoffpreisen der Erde (2.50 Fr./l)! Die Agglomeration von Reykjavik ist denkbar hässlich (ich schliesse mich der Vermutung eines Holländers an, der die Plattenbausiedlungen importierten Sowjet-Architekten zuschreibt). Endlos ziehen sich die Strassen über kleine Hügel hin. Reykjavik ufert scheinbar endlos nach Osten aus. Von einer Raumplanung hat man hier noch nie etwas gehört, eigentlich wenig erstaunlich, da den 350'000 Einwohner 100'000 km2 zu Verfügung stehen.

Ich bin müde. Langsam fährt mir die fast schlaflose Nacht in die Knochen. Mein Zeitgefühl ist vollkommen durcheinander: Ich habe schon 60 endlose km hinter mir, es ist aber erst 11 Uhr. Bei jedem kurzen Halt fallen mir fast die Augen zu und ich drohe einzunicken. Es hat keinen Sinn noch lange zu fahren. Ausserdem kommt ein ziemlich heftiger Gegenwind auf, als ich Richtung Osten nach Hveragerdi fahre. Die Autos pfeilen schnell, sehr schnell an mir vorbei, der Belag am Strassenrand ist kiesig und meine Muskeln sind übermüdet. Schnellstmöglich schaue ich mich nach einem wilden Zeltplatz um. Gar nicht so einfach in einer ebenen, baumlosen Landschaft. An einem wünderhübschen kleinen Bach gelingt es mir doch einen Platz zu finden. Es windet heftig und das Aufstellen des Zeltes gerät zum Hochseilakt. Also: Zelt aus dem Zeltsack… Halt den Sack nicht achtlos auf den Boden werfen, sondern am Fahrradlenker anhängen (sonst würde ich die nächsten 5 min mit hilflosem Hinterherrennen verbringen). Das Zelt mit der einen Hand halten, mit der anderen den ersten Häring setzen und schon flattert das Ganze im Wind. Bis Ende meiner Reise sollte ich das Spiel mit dem Wind recht gut beherschen. Eine unerwartete Böe wird aber immer wieder etwas von meinem Material für ein paar Dutzend Meter mitzerren.

Das Zelt steht fest verankert im Wind. Ich bemerke zuerst nicht, dass sich ein alter Mann mit Fischerrute mir nähert. Erst als er laut gestikulierend auf sich aufmerksam macht und mich herruft, fällt er mir auf. Ich gehe zu ihm und versuche möglichst freundlich zu sein. Überraschung: Er kann (ausser "no") kein Wort Englisch und ich verstehe auf isländisch eigentlich nicht einmal dies. Mehrmaliges Zeigen auf mein Zelt und unzählbare "no" lassen mich die Situation pessimistisch einschätzen. Er zeigt noch eine Papierstück mit einer einfachen Kartenskizze und isländischen Flurnamen, die ich beim besten Willen nirgends zuordnen kann. Mir bleibt nichts anderes übrig als das Zelt schweren Willens abzubrechen. Ich denke er hat mich wohl etwas verarscht mit seinem Getue, er wollte wohl nur in Ruhe fischen, da ich aber der Gast in seinem Land bin, will ich aber nicht hochnäsig seinen angestammten Fischerplatz besetzen.

Das Weiterfahren ist nun doppelt mühsam, wenn die Aussicht auf Schlaf schon so nah gewesen ist. Dazu kommt, dass der Wind noch mehr aufgefrischt hat. Nach 10 km und einem kurzen aber steilen Aufstieg entdecke ich ein gemütliches Plätzchen ab von der Strasse. Es bietet sogar etwas Sichtschutz, was eine Seltenheit ist für isländische Verhältnisse.

Im Zelt überfällt mich eine grosse Müdigkeit. Es ist etwa drei Uhr nachmittags und ich schlafe zum ersten Mal ein. Insgesamt werde ich etwa 15 Stunden schlafen. Immer wieder erwache ich durch das heftige Rütteln des Windes an meinem Zelt. Zu meinem grossen Erstaunen und Verwirrung lässt sich drei Uhr nachmittags und nachts kaum unterscheiden. Es ist immer hell oder dämmerig.


Montag 24. Juli 2000
Mosfellsheidi – Brücke über Pjórsá, ca. 75 km

Ich erwache aus einem tiefen Schlaf und bin völlig verwirrt. Langsam versuche ich herauszufinden, wo ich bin und was ich hier eigentlich mache. Nach einer halben Stunde fühle ich mich wieder ganz ok. Nach einem kleinen Frühstück (Toastbrot, nicht getoastet, Butter und Wasser), beginne ich mein Gepäck zu packen, eine Handlung, die während einer Fahrradtour zur blinden Routine wird.

Zurück auf der Strasse schwinge ich mich auf den Sattel und radle gemächlich weiter. Es sollten noch etwa 25 km bis Hveragerdi sein. Die Strasse führt über einen kleinen Pass mit einem moosbewachsenen Plateau. Leider sehe ich anfangs kaum etwas, die ganze Gegend ist von einem dicken Nebel durchhangen, die Sichtweite sinkt praktisch gegen Null. Dadurch beginnt es auch Nieseln und mich fröstelt. Plötzlich taucht aus der Nebelwand eine Hütte am Strassenrand, die nach der Aufschrift eine Tankstelle sein soll. Zu meinem Erstaunen gibt es sogar einen kleinen Laden. Meine Flaschen sind fast leer und so frage ich drinnen nach Wasser. Scheinbar alleine kümmert sich eine junge Frau um alles. Eine Tatsache, die mir noch oft auffallen wird, ist, dass viele junge Studentinnen während den Sommermonaten einsame Berghütten, Tankstellen oder Campingplätzen verwalten. Dies würde wohl ausserhalb von Island blankes Unverständnis auslösen und bei den betreffenden Eltern schiere Angst verbreiten.

Etwa auf der Passhöhe (ca. 450 m) fallen mir Dampffahnen auf, die einfach so aus Erdspalten aufzusteigen scheinen. Neugierig fahre ich mit dem Fahrrad näher heran. Der starke Schwefelgeruch lässt keine Zweifel offen. Eine nahegelegene Herberge nutzt die Erdwärme zum Heizen. Es wird kaltes Wasser durch eine Leitung ins Erdreich gepumpt, dieses erwärmt sich stark und kann so genutzt werden.

Eine steile Abfahrt führt nach Hveragerdi, einem grösseren Dorf mitten in einer geothermischen Region. Aus den Seitentälern sieht man vielerorts Dampf aufsteigen. Ein fantastischer Anblick. Für den Moment ist das noch mühsame Strampeln vergessen und ich freue mich riesig auf alles, was mich in den kommenden Wochen noch erwarten wird.

Hveragerdi hat einen interessanten Park, den es sich echt lohnt anzuschauen. Auf einer relativ kleinen Fläche befinden sich blubbernde Schlammlöcher und sogar ein Geysir. Der Eingang führt durch ein kleines Glashaus. Sofort kommt eine junge Frau auf mich zu und fragt, ob ich hineingehen möchte. Enthuasistisch bestürmt sie mich, dass es gleich eine Eruption geben könnte bei dem Geysir! Ich kann ihr kaum folgen, so schnell rennt sie zum Ort des erwarteten Spektakels. Ich sollte jetzt gleich einen echten Geysirausbruch zu sehen bekommen, unglaublich. Der ruhende Geysir ist ein blaues Steinbecken,das eine beträchtliche Tiefe zu haben scheint. Es bleibt alles ruhig. Nur Geduld bewahren, meint die Führerin noch bevor ich etwas sagen kann. Plötzlich soll es soweit sein, sie zeigt auf das Becken. Ich schaue angestrengt auf den Ort des Geschehens, nur: was geschieht? Tja, die Eruption äussert sich in einer Erhöhung des Wasserspiegels um etwa 5 cm… Was man sieht ist nur das Wasser, das durch einen natürlichen Überlauf abströmt. Es ist schon spannend, nur kam ich wohl mit etwas anderen Erwartungen.

Angesteckt von der Begeisterung der jungen Frau, lasse ich mich herumführen. Da ich im Moment der einzige Besucher bin, lässt sie sich Zeit. Super. Es gibt übrigens auch eine "death hot spring", in dem sich ein ungeschickter Tourist im letzten Jahrhundert verbrüht hat. Dieser konnte zwar noch herausgezogen werden, er starb aber an den Verbrennungen. Ausserdem findet man auch den "garbage hot spring", den eine noch verrücktere Geschichte umgibt. Während langer Zeit haben die Dorfbewohner all ihren Müll hineingeworfen, da sie diesen für erloschen hielten. Bei einem Ausbruch des Hekla (ein sehr aktiver Vulkan in der Nähe) kam es aber zu einer Explosion der heissen Quellen und der angesammelte Müll wurde über das ganze Dorf verteilt… Tja so spielt das Leben.

Im örtliche Supermarkt verweile ich länger als ich dies sonst tue. Es ist schon noch interessant, was die Isländer so essen. Das meiste ist aus der halben Welt importiert: Reis und Kekse aus den USA, Bananen aus Afrika, Zwieback aus Schweden, Gemüse von Argentien bis Zimbabwe.

Den Rest des Tages führt über eine topfebene Landschaft, vorbei an Selfoss, der einzigen Stadt in der Region. Abends überquere ich eine Eisenbrücke über die Pjórsá. Müde entscheide ich mich hierzubleiben, unter der Brücke finde ich ein gemütliches Plätzchen zu Zelten. Beim nahegelegen Bauerhof frage ich nach Wasser. Ich komme mir sehr seltsam vor mit dem vollbepackten Fahrrad, den Wanderschuhen und dem Fahrradhelm, die alte Bäuerin hat wohl einen ebensolchen Eindruck. Ich frage auf Englisch nach Wasser, nichts. Sie kann wohl kein Wort davon und ich weiss leider nicht einmal, was Wasser in ihrer Sprache heisst. Ich zeige auf meine leere PET-Flasche. Inzwischen hat sie mit der Gartenarbeit und ich gelernt, dass "vátn" wohl Wasser bedeutet. Sie erscheint mir zwar sehr zurückhaltend aber äusserst freundlich und hilfsbereit. Danke.

Abends koche ich mir gemütlich ein Süppchen. Es tut gut etwas Warmes zu Essen und dazu noch etwas, das schmeckt. Dank sei den Fertigsuppen, von denen ich ein paar Päckchen mitschleppe.

Im Zelt tue ich mich schwer mit der Entscheidung der Route der nächsten Tage: entweder weiter der Küste entlang über Vik (alles geteert, viele Siedlungen) oder die Inlandroute über Landmannalaugar und Eldgjá (170 km Sandpiste, Geröll, Flussüberquerungen, keine Menschenseele und eisiges Wetter). Landschaftlich muss Landmannalaugar wunderschön sein… über Vik erwartet mich eine langweilige Teerstrasse. Mit einem unguten Gefühl entscheide ich mich doch die Inlandroute zu nehmen. Wenn man alleine unterwegs ist, beängstigt einem die Umgebung viel mehr als zu zweit. Was geschieht mit mir, wenn ich auf einsamer Strecke mir ein Bein breche oder sonst etwas? Wann wird jemand vorbei kommen? Hat es genügend Wasser? Reicht mein Essen? Sind die Flüsse jetzt überhaupt überquerbar? Muss ich plötzlich umkehren und einen riesigen Umweg fahren? …?


Dienstag 25. Juli 2000
Brücke über Pjórsá – anfangs F225, ca 80 km

An diesem Morgen erwache schon etwas verwirrt. Es ist schon 10 Uhr! Ich wollte doch früh losfahren. Erst nach einer Weile begreife ich, was geschehen ist: mein Wecker hat mich verarscht (ihr fragt euch jetzt sicherlich warum ich einen Wecker mit in die Ferien nehme. Die Sache ist ziemlich einfach: Ich bin ein Morgenmuffel, das heisst ich gehöre nicht zu den Glücklichen, die ohne Zutun um morgens um sechs erwachen und manchmal ist man halt auf frühes aufstehen angewiesen, wie z.B. für einen Bus oder eine lange Tagesetappe). Es ist ein Funkwecker, der sich automatisch auf die richtige Zeit einstellt. Das Signal in ist aber auf die MEZ ausgelegt (was bei mir zuhause natürlich super passt). In Island, so dachte ich mir wird wohl kaum ein solches zu empfangen sein (Reichweite 1000km) und der Wecker sollte normal laufen. Tatsächlich hat sich der kleine aber klammheimlich auf die MEZ zurückgestellt (irgendein Signal hat sich wohl nach Island verirrt). Aus 8 Uhr wurde 10 Uhr. Künftig gibts bei mir immer eine kleine Kopfrechenübung, wenn ich auf den Wecker schaue, um die Zeit abzulesen. Da ich durch den Eigensinn meines Weckers zwei Stunden gewonnen habe, nehme ich es jetzt locker.

Auf dem Zeltboden breite ich nochmals die Islandkarte aus, präge mir die Route ein, versuche herauszufinden, wo Steigungen sein könnten, wo ev. Wasser zu Trinken. Meine Islandkarte umfasst das ganze Land in einem Massstab 1:600'000, da kann eine Fingerbreite schon eine halbe Ewigkeit bedeuten. Natürlich fehlen jegliche Höhenkurven oder verlässliche Schattierungen, nur einzelne Bergspitzen sind mit Höhenangaben versehen.

Die ersten Dutzend Kilometer fliege ich nur so dahin, der Wind hat aufgehört und die Sonne zeigt sich. Das Land hier ist sehr offen, nur in weiter Entfernung erblicke ich ein paar Berge. Es hat erstaunlich viele Äcker, Schafe und Pferde. Sechs Kilometer vor Hella zweigt meine Strasse Richtung Norden ab (Route 26). Etwas mulmig ist mir schon Anbetracht der kommenden 170 km. Zum Glück kommen aber gleich zwei Tourenfahrer mir entgegen: Sie sind also durchgekommen (oder umgekehrt?), dann komme ich wohl auch durch.

In der Ferne ist nun deutlich der Eispanzer des Myrdalsjökull zu sehen, der südlichste dieser beeindruckenden Bergmassive. Östlich türmt sich Hekla (1491 m) auf, der berüchtigste Vulkan des südlichen Islands. Die letzten Eruptionen waren übrigens: Januar 2000, 1991, 1947 (mit katastrophalem Ausgang), … Die Strasse geht tückisch von Teer zu losem Schotter über (zuerst als Baustelle ausgeschildert, stellt sich aber später als 15 km Strecke heraus). Der lose Schotter stellt mich urplötzlich vor bisher unbekannte Gleichgewichtsprobleme. Das Gewicht meines Gepäcks und meiner selbst lassen die Pneus tief einsinken. Um ein Absteigen zu verhindern muss man stark Druck auf die Pedale geben, was das Fahrrad manchmal fast um 90° zu drehen vermag bei sandigem Boden. Solche kleine Kraftäktchen schleissen einem mit Zeit aber stark. Ich komme mir vor wie auf einem Schiff, das sich unter meiner Kraft mühsam durchs Meer pflügt und ständig droht zu kippen. Jeeps und Lastwagen hinterlassen eine langgezogene Wolke aus Staub. Später werde ich merken, dass ich mit diesem Schotterbelag aber noch recht glücklich hätte sein müssen. Für 10 km fährt es sich später zurück auf Teer schon wieder viel angenehmer.

Die Umgebung wirkt sehr stark auf mich ein. Die karge Vegetation auf der teils kohlenschwarzen Lava, die staubige Strasse, die scheinbar ins Nichts führt und der fast wolkenlose Himmel geben mir das Gefühl grosser Freiheit. Endlich alles hintersichgelassen. Pfeilschnell fährt es sich über den Asphalt. Die bedrückenden Uni-Prüfungen der vergangenen Wochen und einfach alles, was das Leben in der Zivilisation einengt. Obwohl ich alleine in dieser Steinwüste stehe, fühle ich mich nicht einsam, ich fühle mich wohl.

Zu meinem grossen Erstaunen entdecke ich am Strassenrand ein kleines Museum über den Hekla. Als ich eintrete, treffe ich nur auf eine gelangweilte Studentin (die wohl auch so einen Art Sommerjob macht) aber auf keinen einzigen Besucher. Die Austellung ist recht interessant: Viele historische und aktuelle Bilder der Ausbrüche, Lavagestein verschiedenen Alters und ein ausgestopfte Exemplare der hiesigen Fauna.

Von der Route 26 zweigt in östlicher Richtung mein Weg ab, die F225 (F bedeutet, dass nur per Geländewagen gefahren werden darf: keine Brücken, grosse Schlaglöcher, viel Sand, starke Steigungen, …).

Scheinbar unmerklich langsam umfahre ich den Vulkankegel vom Hekla. Es stimmt also, dass dieser von allen Seiten gleich aussieht. Die Umgebung besteht nun aus feinem, schwarzem Sand. Durch die tiefstehende Sonne scheint alles so unwirklich. In grosser Entfernung ist eine Staubfahne von einem Überlandbus zu sehen, der mich eine halbe Ewigkeit später dann auch überholt. Die Strasse ist zwar nicht gerade eben, der Sand aber gut gepresst (anders siehts hier wohl nach langen Regenfällen aus, das Inland ist aber wesentlich trockener als die Küstenabschnitte). Unmerklich grünt die Umgebung auf, ich entferne mich vom direkten Einfluss des Hekla und somit auch von gelegentlichen Lavaauswürfen, die die Vegetation auslöscht.

Ich fühle mich müde, lange bin ich auf holpriger Strasse unterwegs gewesen. Langsam macht sich auch mein Kreuz bemerkbar von den unzähligen Schlägen durch die unebene Strasse. Die F225 gelangt an einen wunderschönen Bach, inmitten grüner Wiesen. Alles ist in goldene Farbe getaucht durch die langsam untergehende Sonne. Hier muss ich zelten. Tatsächlich habe ich niemehr einen solch zauberhaften Ort zum Übernachten gefunden.

Hungrig bin ich eigentlich nicht, so esse ich nur etwas Knäckebrot und koche Wasser ab für den Tee. Erst gegen halb elf geht die Sonne tatsächlich unter. Dunkel wird es aber nie richtig.


Mittwoch 26. Juli 2000
anfangs F225 – Eldgjá, ca. 55 km

Heiss, heiss! Ich bin völlig durchgeschwitzt in meinem Schlafsack, als ich um halb acht aufwache. Die Sonne scheint schon gnadenlos auf mein Zelt. Nichts wie aufstehen. Ich wasche mich mit dem klaren Bachwasser.

Auf meinen Fahrradtouren komme ich nur selten zum gründlich Waschen. Meist hat man gar kein Wasser übrig (die wenigen Liter, die man herbeischleppt, reichen knapp zum Trinken und Kochen) und Oberflächenwasser ist oft abgestanden oder schlammig. Zum Glück bin ich ja die ganze Zeit draussen, da stört der manchmal schweissige Geruch weniger.

Ich rechne mit etwa 25 km bis Landmannalauger, einer grossen Hütte mit Campingplatz und heisser Quelle ("laugar"=warmes Wasser). Die F225 schlängelt sich dem Bach entlang ein Tal hoch. Später bekomme ich die erste Flussfurt zu sehen: Der Weg hört am Gewässerrand auf und oh Wunder ein paar Dutzend Meter weiter, am anderen Ufer taucht die Strasse wieder auf. Das erste Mal stelle ich mich noch etwas ungeschickt an mit der Suche nach einer guten Stelle zum Queren, zum Glück muss ich aber meine Wanderschuhe nicht ausziehen und ich finde mich schon bald auf der anderen Seite wieder.

Beidseits vom Talboden erheben sich die Hügel des Fjallabak ("hinter den Bergen"). In schattigen Einschnitten liegt überall noch Schnee. Nach ein paar netten Kilometern beginnt wieder ein "Wüsten"-Abschnitten. Feiner, schwarzer Sand lässt das Radeln zur Qual werden. Das schwer belastete Hinterrad sinkt tief ein, das Vorderrad hat keinen Griff mehr. Während eineinhalb Stunden muss ich mein Fahrrad schieben. Leider rutschen auch die Schuhe und an meinem vollbeladenen Lastesel lässt sich nicht leicht Griff fassen zum Schieben, die Taschen sind sperrig. Ist das Schieben nicht schon mühsam genug? Ein Schwarm kleiner Fliegen macht sich dieser Hinsicht wohl keinerlei Gedanken und umschwärmt heftig meinen Kopf. Mit dem Motto "Dranbleiben oder Tod" der Biester in der Einöde kann ich mich nur schwer abfinden. Während dem Radeln lassen sich Fliegen und Mücken locker abschütteln, im Schritttempo ist dies unmöglich.

Gegen Mittag erreiche ich Landmannalaugar. Müde vom Schieben nehme ich die letzte kleine Anhöhe vor dem erstmaligen Ziel. Ich traue meinen Augen nicht. Dutzende, nein Hunderte von Touristen tummeln sich dichtgedrängt auf dem Gelände. Jeeps, Busse, Mountainbiker, Wanderer, Ältere, Zelte, Campingkocher und Kinder. Ein einziger Ameisenhaufen in der Wildnis des Fjallabak. Ich nehme mir vor nicht allzulange zu bleiben, fülle meine Flaschen und plaudere mit ein paar anderen Tourenfahrern. Heilfroh aus diesem seltsamen Treiben wieder herauszukommen, verlasse ich Landmannalaugar in Richtung Eldgjá. Die Strasse wirkt hier noch verlassener. Die meisten die nach Landmannalauger fahren nehmen die Richtung, aus der ich gekommen bin und fahren dort auch wieder zurück. Laut Lonely Planet soll diese Strecke absolut mühsam sein per Fahrrad und wird überhaupt nicht angeraten. LP hat, dies fällt mir immer wieder auf, kaum Autoren, die schon länger mit dem Zweirad unterwegs waren… Entsprechend soll alles sooo mühsam sein und gefährlich und so weiter. Kurzum, passt auf von wem ihr Rat einholt vor einer Tour, sonst entgeht euch das Schönste.

Die Ruhe in den Bergen lässt mich alles etwas ruhiger angehen. Keine Hektik abends irgendwo sein zu müssen, keine Verpflichtung etwas Bestimmtes zu tun.

Schon ein gutes Stück nach Landmannalaugar treffe ich auf eine Vierergruppe von Holländern. Sie geben eine lustige Clique ab. Nicht nur scheint es sie überhaupt nicht zu kümmern, dass ihre Mietvelos es wohl kaum über den nächsten Hügel schaffen werden (die Inlandroute forderte ihren Tribut), auch stören sie Nebensächlichkeiten wie nasse Kleider und Schuhe bei diesen kühlen Temperaturen nicht. Flüsse durchfahren sie geradewegs, absteigen und schieben ist zwar aufwendig (besonders wenn man noch die Sandalen anziehen muss), dafür bleibt man aber trocken… Natürlich tauschen wir aus, was wir von der schon gemachten Strecken kennen und auf was zu achten ist.

Nach längerer Fahrt (und viele Flussquerungen später) mündet der Weg direkt in ein Bachbett ein und bleibt drin für eine gute Weile. So, zumindest schlimmer kann es wohl nicht werden. Meine Füsse schmerzen nicht mehr, betäubt von der Kälte. Da es ständig wieder Bäche hat, behalte ich zwei Stunden die Sandalen an. Der Fahrtwind und das eisige Wasser tragen leider nicht gerade zum Fusskomfort bei. An einem steilen Hang erblicke ich plötzlich ein Zweiergrüppchen von Schafen: Wie diese wohl hierhin verirrt haben? Der nächste Bauernhof muss mindest 50 km weit entfernt liegen (Luftllinie).

Ein steiler Aufstieg beendet das Wassertreten. Isländische Strassenbauer halten bedenklich wenig von aufwändigen Serpentinen. Aber die einfachste Art eine Strasse eine Berg hoch zu bauen ist geradewegs hinauf, dies muss man wohl zugeben. Es wird kalt. Ich zwänge meine kalten Füsse wieder in die Wanderschuhe und esse kurz etwas. Den Berg hoch muss ich alles schieben. Die Schotterstrasse lässt einem immer wieder ausrutschen, so dass für zwei Schritte nach vorne mindestens deren drei nötig sind.

Bei einem der steilen Anstiege kommt mir ein Jeep entgegen, zu meinem Erstaunen hält dieser an. Der Fahrer kurbelt die Scheibe herunter und fragt mich in gebrochenem Englisch, ob ich Hilfe brauche. Ganz verdutzt antworte ich, dass alles ok und ich nur etwas müde sei. Er fährt weiter. Tja, da habe ich wohl schon etwas trübe aus der Wäsche geschaut.

Leider ist die Passhöhe nicht so leicht erreichbar. Der Weg führt über drei Hochtäler (rauf und runter) bis es endlich geschafft ist. Ich entscheide mich mein Zelt aufzustellen. Neben einem Schnee-/Eisfeld finde ich einen nicht zu steinigen Platz. Auf dieser Höhe (etwa 800m) wächst kaum mehr Vegetation, in den Alpen hätte ich auf über 2500m Höhe getippt. Hier hört alles schon ein bisschen eher auf.

Todmüde krieche ich den Schlafsack. Nur um mir ein mühsames Herumwursteln in der Nacht zu sparen, benutze ich gleich beide Schlafsäcke. Ich habe zu meinem mässig guten Schlafsack noch eine eher dünne Faserpelzeinlage gekauft. Am Morgen ist man dann meist heillos in die beiden Schichten verheddert, frieren ist aber dafür unmöglich, gut ok bei unter –5 beginnts zu frösteln und bei –10 muss ich mich schon mächtig warm anziehen um es noch auszuhalten. In Island wird es aber im Sommer nie so kalt, zum Glück.


Donnerstag 27. Juli 2000
Eldgjá – vor Kirkfubaejarklaustur, ca. 70 km

Immer noch ein bisschen müde von gestern stehe ich auf. Es ist verrückt, ich schlafe manchmal 10 Stunden und bin immer noch nicht ausgeschlafen. Dies passiert mir aber nur auf Fahrradtouren, sonst müsste ich mir wohl schon etwas Sorgen machen.

Neugierig strecke ich meinem Kopf aus dem Zelteingang, die Umgebung ist fantastisch. Geröll, Sand, Eisflächen und ein sich endlos dahinziehender Schotterweg. Vereinzelt ist der Boden mit Moos bedeckt, vorallem dort wo Schmelzwasser abfliesst.

Kaum bin ich angezogen und draussen, beginnt es verdächtig an zu summen. Vereinzelte schwarze Punkte verdichten sich zu einem regelrechten Schwarm: Guten Morgen, ihr lieben Mücken… Das Zähneputzen wird zum Spiessrutenlauf. Wenn ich im Kreis laufe bleiben die Biester hinter mir, wehe Du bleibst stehen. Schlimm wird es beim Zeltabbau, dann kann ich natürlich nicht mehr herumhopsen und die Mücken dringen ins Ohr, Nase und Mund ein. Die erste Abfahrt bringt in dieser Hinsicht Erleichterung.

Es ist recht kühl auf dieser Höhe, zum Glück regnet es aber nicht. Nach einer spannenden Fahrt durch diese Tundra-Landschaft erreiche ich den letzten Anstieg. Noch ein letztes Mal mit aller Kraft schieben, die Strasse ist hier viel zu steil, um vollbeladen fahren zu können.

Wie ein kleines Kind sehne ich dem Ausblick hinter der Passhöhe entgegen. Es lohnt sich! Mir bleibt fast der Atem weg. Eine riesige Ebene breitet sich tief unter mir aus. Die Skaftá, ein grosser Fluss, verliert sich in unzähligen Nebenarmen und weit weg ist die Sprühfontäne eines Wasserfalls sichtbar. In der Ferne liegt dann der Nordatlantik, von dem aber nur ein Dunststreifen zu sehen ist. Westlich und östlich schimmern die Eispanzer vom Myrdalsjökull und respektive Vatnajökull. Das Letztere nimmt übrigens den bescheidenen dritten Platz ein unter den grössten Eispanzern der Erde.

Steil, sehr steil geht nun die Strasse bergabwärts. Ich kreuze ein keuchendes Fahrradfahrer-Pärchen. Ich möchte nicht in deren Haut stecken, ich weiss, was diese alles noch erwartet. Eldgja heisst übrigens ein Tal, dessen Wände aus rotem Gestein sind (eldgja = Feuerschlucht).

Nach holprigen Kilometern, fühle ich plötzlich wie mein Fahrrad etwas "schwammig" auf dem Untergrund fährt. In Sekunden ist alles klar, ich habe meinen ersten Platten eingefangen. Zum Glück ist in der Nähe eine Hütte, die sogar als Unterkunft dient. Solche Treffpunkte sind immer spannend, da die verschiedensten Leute zusammentreffen: andere Tourenfahrer, Neureiche in teuren Jeeps, Aussteigerfamilien und die Einheimischen (mit einem noch gewaltigeren 4WD). Zwischen all dem Gefährt sieht mein Fahrrad schon etwas mickrig aus, nur ist mein Gefährt schon über allerhand Hindernis gekommen, was ich bei den Geländefahrzeugen manchmal bezweifle.

Bei meinem Schlauch ist der worst case eingetreten: ein langer Schlitz gleich neben dem Ventil. Ich versuche ihn trotzdem zu reparien, es hilft aber nichts, ich muss meinen Ersatzschlauch einspannen (von diesem werdet Ihr noch Geschichten hören…). Ungeschickterweise habe ich einen zu kleinen Schlauch mitgenommen (nicht nur ist er zu klein, sondern er gehörte auch einem Kollegen, der ihn aus Altersgründen ersetzte!). Alles, was hier in Klammern steht dämmert mir aber nur langsam während der kommenden Tage.

Nach einer Stippvisite der vorzüglichen Toilettenanlage der Hütte (mit Spülung!) mache ich mich auf die Weiterfahrt. Denkste, nach 100 Metern muss ich wieder absteigen, der Hinterreifen reibt an meinem Rahmen. Ungläubig versuche ich das Rad in eine bessere Position zu bringen, es hilft nichts. Erst später sollte mir klar werden, dass der zu kleine Schlauch den Pneu stärker in die Breite ausdehnt als das Original und somit für meinen Rahmen zur Qual wird.

Meine erste Lösung: die Achse besser einstellen. Funktioniert nicht. Die Kraft beim Pedalen drückt die Achse wieder in die ursprüngliche Position. Zweite Lösung: etwas Luft ablassen. Der geringere Druck verringert die Breite des Reifens und es funktioniert. Nur, geringer Druck schadet dem Pneu und meiner Ausdauer… Es ist ein Teufelskreis.

Nach insgesamt zwei Stunden basteln und warten kann ich weiterfahren. Fazit: ein Schlauch ist komplett hinübe und ich habe keinen Reserveschlauch mehr. Es kommt aber noch schlimmer…

Erstmals kann ich aber wieder die Landschaft geniessen. In endlosen Weiten verliert sich der Schotterweg hier. Langsam nähere ich mich dem Meer. Es wird aber noch sehr lange dauern bis ich es tatsächlich zu sehen bekomme.

Müde und abgekämpft erblicke ich den ersten Bauerhof. Nur noch eine steile Abfahrt trennt mich von diesem. Auf halber Strecke werde ich durch lautes Gebelle aufgeschreckt. Augenblicke später versperrt mir ein bulliger Hund den Weg. Er bleibt zwar etwas auf Distanz, bellt aber wie verrückt. Ein zweiter steht dicht hinter einem Zaun und droht zu mir hinüber zu springen. Was tun? Fahrradfahrer sind solchen Bestien schutzlos ausgeliefert. Weltweit! Durch eine ruckartige Bewegung meinerseits bemerke ich, dass der Hund doch etwas Respekt vor mir hat. Er ist zurückgeschreckt. Das ist meine Chance: Laut bellend gehe ich nun meinerseits auf ihn los. Als ich mit dem vollbeladenen Fahrrad so auf ihn zufahre, hatte er wohl mehr als Angst vor mir als ich von ihm. Der Überraschungsmoment reicht aus, ich entkomme. Der Hund setzt kaum hinter mir nach. Glück gehabt. Glück auch weil mich der Bauer nicht beim Bellen gesehen hat...

Eine Viertelstunde später fahre ich zügig an einem weiteren Bauernhof vorbei, als auch hier ein Höllenhund zur Verfolgung ansetzt. Mit aller Kraft trete ich in die Pedale, der Hund kommt zwar noch auf gleiche Höhe dann kann ich ihn abhängen.

Die letzten Kilometer bis zur Ringstrasse sind schnell verflogen. Es wird aber kühl und ich merke meinen Beinen an, dass es schon gegen 19 Uhr ist.

Endlich auf der Ringstrasse, wohl selten in meinem Leben habe ich mich gefreut auf eine Teerstrasse mit Autos zu kommen. Nach 170 km mühsamem Schotter können sich bei mir solche Gefühle aber durchaus einstellen.

Scheinbar schwerelos gleite ich auf dem Teer voran. Die Strasse ist schnurgerade, bis zum Horizont. 22 km bis Kirkubaejarklaustur. Auf solchen Strassen ist es manchmal schwierig ein vernünftiges Tempo zu halten. Man hat keinen Orientierungspunkt, alles sieht gleich aus. Keine Kurve, keine Steigung.

Nach zügigen 13 km stellt sich wieder dieses schwammige Fahrgefühl ein. Für ein paar hundert Meter will ich es nicht wahr haben. Oh nein! Mein Ersatzschlauch ist auch hinüber. Es ist halb neun und noch knapp 10 km bis zum nächsten Dorf. Ich habe noch ein paar trockene Biscuits und etwas Wasser. Ich muss hier campieren. Es gibt kein Versteck, keine Abzweigung nur eine endlose Mooslandschaft. Beim Fixieren vom ersten Zelthäring entpuppt sich diese Moosschicht als etwa 10 cm dick. Diese überzieht ein Geröllfeld aus spitzen grossen Lavabrocken. Die Häringe kann ich vergessen, ich grabe ein paar der Brocken aus und befestige so die Zeltschnüre. Ich befinde mich 10 m neben der Strasse und gebe wohl ein tolle Sehenswürdigkeit ab für alle vorbeifahrenden Autos. Zum Glück ist es hier immer hell, so bekommt auch jeder Vorbeifahrenden mein Zelt zu sehen...

Die dicke Moosschicht gibt aber eine gemütliche Schlafunterlage ab. Nur die vorbeidonnernden Lastwagen stören die Idylle ein bisschen. Die Isländer scheinen während dem Polarsommer einer Hyperaktivität zu verfallen, egal ob morgens oder abends spät, der Verkehr bleibt in etwa gleich.


Freitag 28. Juli 2000
vor Kirkjubaejarklaustur – Skaftafell National Park, 78 km

Die bange Frage von heute Morgen: Wie gut sieht mein Schlauch aus? Im schlimmsten Fall müsste ich zurück nach Reykjavik und mir einen neuen kaufen. Das Loch ist zum Glück nicht gleich neben dem Ventil wie beim anderen. In den kommenden zwei Wochen werde ich aber diesen Schlauch noch zweimal flicken. Dazu verliert der Schlauch ständig etwas Druck, anfangs genügt einmal pro Tag nachpumpen, gegen Ende sind es dreimal täglich. Meine grosse Lehre bei diesem Abenteuer: mind. 3 Ersatzschläuche dabeihaben, alle in der richtigen Grösse und vorallem neue. Bei meiner Reisevorbereitung habe ich wohl wenig vergessen, dieses Detail hat defintiv dazugehört.

Um 12 Uhr ist das Fahrrad wieder fahrtüchtig (hoffe ich jedenfalls). Die 10 km bis Kirkjubaejarklaustur verfolgt mich immer wieder das Gefühl eines platten Reifens, doch es ist nur eine Illusion. Nach einer lockeren halben Stunde Fahrt, gewinne ich wieder Vertrauen in meinen Schlauch. Im Dorf ist erstmals schlemmen angesagt: mal wieder richtiges Brot, ein Joghurt. Ich finde auf Anhieb einen Supermarkt, der auch noch von anderen Schweizern wimmelt. Ich versuche inkognito zu bleiben, schliesslich möchte ich Isländer kennenlernen und nicht Schweizer im Camping-Urlaub.

An einem Tisch vor dem Touristenbüro treffe ich auf zwei deutsche Radler, die gerade aus der Gegenrichtung angekommen sind. Sie sind gegen harten Gegenwind gefahren. Sie erzählen mir Geschichten über den National Park und die Sandur (topfebene Sandfläche, abgelagert durch Gletscherflutwellen). Ich habe auf der Karte die Skeidararsandur schon gesehen, konnte mir aber nicht so recht ein Bild machen. Die Beiden fragen mich dann auch warum ich denn alleine unterwegs sei.

Tja, die Antwort ist nicht ganz einfach. Erstens, es ist nicht leicht eineN PartnerIn zu finden, eine solche Tour ist doch mit einigen Entbehrungen verbunden, auch hat man wahrscheinlich selten die gleiche Destination als Traumziel und schliesslich fordert das Ganze etwas Vertrauen in sich selbst um sich daran zu wagen. Natürlich soll jeder es versuchen, es fällt einem leichter, wenn man schon Erfahrung hat von kleineren Tourenfahrten oder kompetenten Rat einholt. Zweitens, und dies ist eigentlich der wichtigere Punkt, alleine ist das Erlebnis in der Natur viel intensiver, jede Farb-, Witterungs und Geruchsänderung fällt einem auf. Man fühlt sich eins mit der Natur, um eine abgetretene Floskel zu brauchen, ein Umstand aber, der für mich genauso erlebt wird. Alleine taucht man stärker in ein Land oder Landschaft ein, hat intensiveren Kontakt mit anderen Menschen. Auch lässt man allen sozialen Ballast ("Ballast" meine ich nicht negativ) zuhause, man geht als Einzelner hinaus und kann sich verändern. Das Verändern ist wichtig für mich, darum wird es mich wohl noch viele Male in ferne Gegenden ziehen.

So, nach diesem philosophischen Ausschweifer wieder zurück auf die Teerstrasse von Südwest-Island. Die Landschaft grünt auf. Gegen das Landesinnere türmt sich abrupt eine Felsenklippe auf. Immer wieder ergiessen sich Wasserfälle hinab. Schafe weiden weit verstreut. Nach guten zwei Stunden Fahrt trocknet die Landschaft aber wieder aus, nur noch vereinzelt Grasbüschel, das Wiesengrün wird durch den schwarzen Vulkansand abgelöst. Die Landschaft vor mir erscheint endlos: Die Skeidararsandur (30x60 km topfebener schwarzer Sand). Wie eine Riesenschlange zieht sich die Teerstrasse dahin. Hin und wieder wird die Sandur von gewaltigen Schmelzflüssen zerfurcht. Gegen das Landesinnere ist eine langes schwarzen Band sichtbar. Erst spät erkenne ich es als Gletscher Skeidararjökull, die Gletscherzunge misst 25 km.

Die Sandur ist übrigens durch riesige Flutwellen entstanden. Letztes Mal gab es eine solche im Jahre 1996 als unter dem Eispanzer Vatnajökull ein Vulkan ausbrach (Grimsvötn), dieser schmolz grosse Mengen an Eis und liess einen See entstehen, Monate später ergoss sich dann eine apokalyptische Flutwelle die Gletscher hinab, über die Sandur und ins Meer. Grossen Mengen Sand wurden von diesen Fluten angespült und eingeebnet, so dass eben diese einzigartige Landschaft entstand.

Nach 30 km endet die Sandur, die Strasse führt Richtung Berge und schliesslich zum Nationalpark. Am Eingang steht ein grosser Campingplatz, auf dem Backpacker und isländische Touristen vorübergehen stranden können.

Mir fällt ein, dass dies mein erster Campingplatz seit Jahren ist. Obwohl ich in den letzten zwei Jahren sicher 4 Monate im Zelt verbracht habe, so sind Campingplätze nie mein Ding gewesen. Hier in Island lerne ich aber den Charme der nordischen Variante kennen: Freundliche Betreiber, schön gelegen und nette Mitcamper. Auch sind nach der Wildnis der Fjallabaks Toilettenanlagen und Duschen nicht zu verachten.

Abends koche ich mir noch etwas Feines und brüte noch etwas über der Karte und dem Reiseführer.


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